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Kathedralen ~
"All jene
großen Kathedralen Europas wurden während des verrückten Jahrhunderts
zwischen 1150 und 1250 gebaut. Die Leute hatten damals nicht genug Geld,
um zwei Kühe, geschweige denn zwei Autos zu kaufen — für was haben sie
gelebt? Und man darf sich dabei keine Sklaventreiber
vorstellen: Das ist
es nicht, was die großen Kathedralen hervorgebracht hat. Es war eine
Gemeinschaftsleistung, eine mythische Begeisterung." (Joseph Campbell,
Pathways of Bliss)
Die
gotische Kathedrale kann man vielleicht als Ausdruck eines letzten
Höhepunkts christlich-abendländischer Mythologie bezeichnen.
Gleichrangige künstlerische Leistungen mag es auch später, etwa im
Barock geben. Dass Campbell so sehr von dem Jahrhundert der Kathedralen
schwärmte, liegt jedoch vermutlich daran, dass die schwierigen
Bedingungen mittelalterlichen Lebens durch ein religiöses Weltbild
abgefedert wurden, das noch alle Züge einer die ganze Gesellschaft
tragenden Mythologie trägt.
Die ersten Spuren einer verhängnisvollen theologischen Trennung von
Dies- und Jenseits, die das Göttliche in weite Ferne rückte, mögen zu
dieser Zeit bereits zu den ersten Krankheitssymptomen am christlichen
Mythos geführt haben; Die Welt der Gralsgeschichten mit ihren
Erzählungen vom wüsten Land, das es zu heilen gilt, legen davon Zeugnis
ab.
Betritt man jedoch eine Kathedrale, dann treten theologische Konzepte
hinter der unmittelbaren Erfahrung des Sakralen zurück. Mit ihren
hochaufsteigenden Türmen, die alle Gegensätze zwischen Himmel und Erde
zu überbrücken scheinen, hält die gotische Kathedrale ein Innenleben
bereit, das nicht weniger als den gesamten Kosmos mittelalterlicher
Weltanschauung umfasst. In Kathedralen wie etwa Chartres oder Notre Dame
in Paris, mühten sich führende Gelehrte und Künstler ihrer Zeit, das
komplexe theologische Weltbild, Innen- und Außenwelt umfassend, in
passende Sinnbilder zu verwandeln. Transzendenz sollte nicht nur
gepredigt, sondern in der unmittelbaren Anschauung eines
Gesamtkunstwerks aus Architektur, Plastik, Malerei, Wort und Gesang,
Licht und Klang erfahren werden.
Dabei greift die gotische Kathedrale, auf allgemeinerem Niveau,
Eigentümlichkeiten auf, die bei unterschiedlicher Raffinesse für jeden
Tempel, jede Kirche und jede Andachtskapelle gelten. In Indien lassen
sich an manchen Orten Steine finden, die von einem in die Erde gezogenen
Kreis umgeben sind, und somit bereits eine primitive Form des heiligen
Raumes bilden: Ein Raum, der die Welt des Geistes spiegelt und zu
innerer Einkehr einlädt.
Die Idee des Tempels besteht letztlich jedoch nicht in einer Aufspaltung
der Welt in Sakral- und Profanzone. Vielmehr ist die vorübergehende
Einkehr in die Innenwelt des Geistes manchmal nötig, um danach
verwandelt in die Welt des Alltags zurückzukehren und auch dort
Transzendenz zu erfahren. Die Kathedrale stellt eine Verbindung zwischen
dem Göttlichen und der Welt des Menschen her: Zwei Welten, die im Grunde
nie getrennt waren, jedoch im Alltagsbewusstsein als getrennt erfahren
werden können. So wie die Himmelsobservatorien der Bronzezeit, etwa in
Stonehenge oder Goseck, den Bauern vermutlich halfen, die pragmatischen
Erfordernisse des Ackerbaus im Jahreskreislauf mit den spirituellen
Aspekten kosmischer Kräfte gleichzustimmen, vergegenwärtigen die
Kirchen, Kathedralen und Tempel der verschiedenen Religionen die
Wirklichkeit der Transzendenz, in deren Allgegenwart sich der religiöse
Mensch aufgehoben weiß.
Für die mittelalterlichen Kathedralen der Romanik und Gotik aus
spiritueller Perspektive dasselbe, wie für hinduistische und
buddhistische Tempel, die Moscheen der Muslime, aber auch manche
prähistorische Höhlen, die vermutlich der Verwandlung durch
Initiationsrituale gedient haben:
"Wenn
Sie in eine Kathedrale hineingehen, treten Sie in eine Welt geistiger
Bilder ein. Sie ist der Mutterschoß Ihres geistigen Lebens — die
Mutter Kirche. Alle Formen ringsum besitzen eine geistige Wertigkeit. In
einer Kathedrale nun hat die Bilderwelt anthropomorphe Gestalt.
Gott und
Jesus und die Heiligen und überhaupt alle haben menschliche Gestalt.
Aber in den Höhlen haben die Bilder Tiergestalt. Aber es ist dasselbe,
glauben Sie mir. Die Gestalt ist zweitrangig. Die Botschaft ist es,
worauf es ankommt. [...] Die Botschaft der Höhlen spricht von einer
Beziehung der Zeit zu ewigen Mächten, die an dieser Stätte irgendwie
zu erleben ist." (Die Kraft der Mythen)
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Quellen und weiterführende Literatur:
~
Die Kraft der Mythen
~
Pathways of Bliss. Mythology and Personal Transformation
~
Der Flug der
Wildgans
~ Reflections on the Art of Living. A Joseph
Campbell Companion
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